Flusser - Für eine Philosophie der Fotografie

Auszüge Notizen Zitate zu Für eine Philosophie der Fotografie von Vilém Flusser

Stichworte: Black-Box, Black-Boxen,

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Bilder sind Vermittlung zwischen der Welt und dem Menschen. Der Mensch „ek-sistiert“, das heißt, die Welt ist ihm unmittelbar nicht zugänglich, so daß Bilder sie ihm vorstellbar machen sollen. Doch sobald sie dies tun, stellen sie sich zwischen die Welt und den Menschen

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So hat sich der Mensch mit der Erfindung der Schrift noch einen weiteren Schritt zurück von der Welt entfernt. Texte bedeuten nicht die Welt, sie bedeuten die Bilder , die sie zerreißen. Texte entziffern heißt folglich, die von ihnen bedeuteten Bilder zu entdecken. Die Absicht der Texte ist, Bilder zu erklären, die der Begriffe, Vorstellungen begreifbar zu machen. Texte sind demnach ein Metacode der Bilder.

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Die Bedeutung scheint in den Komplex auf der einen Seite (Input) hineinzufliegen, wobei der Ablauf selbst, das Geschehen innerhalb des Komplexes, verborgen bleibt: eine „Black Box“ also. Die Codierung der technischen Bilder geht aber nun einmal im Inneren dieser Black Box vor sich, und folglich muß jede Kritik der technischen Bilder darauf gerichtet sein, ihr Inneres zu erhellen. Solange wir über eine derartige Kritik nicht verfügen, bleiben wir, was die technischen Bilder betrifft, Analphabeten.

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Aber es gibt Apparate, die zu ganz anderen Spielen fähig sind. Während der Schriftsteller und Word Professors statisch informieren (die Symbole, die sie auf Seiten drücken, bedeuten konverntionalisierte Laute), gibt es auch Apparate, die dynamisch informieren: Die Symbole, die sie auf Gegenstände drücken, bedeuten spezifische Bewegungen (zum Beispiel Arbeitsbewegungen), und die derart informierten Gegenstände entziffern diese Symbole und bewegen sich laut Programm. Diese „intelligenten Werkzeuge“ ersetzen die menschliche Arbeit und emanzipieren den Menschen vom Arbeitszwang: Von nun ab ist er frei, zu spielen.

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Die Natur als ganze ist ein System, in dem sich Informationen gemäß dem zweiten thermodynamischen Prinzip fortschreitend zersetzen. Dieser natürlichen Entropie widersetzt sich der Mensch, indem er Informationen nicht nur empfängt, sondern auch speichert und weitergibt – darin unterscheidet er sich von den übrigen Lebewesen – und Informationen auch absichtlich erzeugt. Diese spezifisch menschliche und zugleich widernatürliche Fähigkeit heißt „Geist“, und Kultur ist ihre Folge: nämlich unwahrscheinlich geformte, informierte Gegenstände.

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Selbstredend sind die Industriegegenstände deshalb wertvoll, weil sie Informationen tragen. Ein Schuh und ein Möbelstück sind wertvoll, weil sie Informationsträger sind, unwahrscheinliche Formen von Leder oder Holz und Metall. Aber die Informationen sind in diese Gegenstände eingeprägt und können aus ihnen nicht herausgelöst werden. Man kann diese Informationen nur abnutzen und verbrauchen. Das macht solche Gegenstände als Gegenstände wert-„voll“. Im Foto hingegen sitzt die Information lose auf der Oberfläche auf und kann leicht auf eine andere Oberfläche übertragen werden. Insofern demonstriert das Foto deutlich den Niedergang des Dings und des Begriffs „Besitz“. Nicht wer eine Fotografie besitzt hat Macht, sondern wer die auf ihr befindliche Informationen erzeugt hat. Nicht der Besitzer, der Programmierer der Information ist der Mächtige: Neo-Imperialismus. Das Plakat ist wertlos, niemand besitzt es, und zerreißt es der Wind, so bleibt die Macht der Werbeagentur dennoch ungeschmälert – sie kann es reproduzieren. Dies zwingt uns, unsere hergebrachten wirtschaftlichen, politischen, moralischen, erkenntnistheoretischen und ästhetischen Werte umzuwerten.

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Die für das Fotografieren charakteristischen Symbiose von Apparat und Fotograf spiegelt sich auch im Kanal wider. Zum Beispiel: Der Fotograf fotografiert für eine spezifische Zeitung, weil ihm die Zeitung erlaubt, Hunderte oder Tausende von Empfängern zu erreichen, und weil er von der Zeitung bezahlt wird; er handelt dabei in dem Glauben, die Zeitung als sein Medium zu verwenden. Unterdessen ist die Zeitung der Meinung, daß sie die Fotos zur Illustration ihrer Artikel verwendet, um ihre Leser besser programmieren zu können, daß demnach der Fotograf ein Funktionär des Zeitungsapparates ist. Da der Fotograf weiß, daß nur solche Fotos veröffentlicht werden, die in das Zeitungsprogramm passen, wird er versuchen, die Zeitungszensur durch unauffälliges Hineinschmuggeln ästhetischer, politischer oder erkenntnistheoretischer Elemente in sein Bild zu unterlaufen. Die Zeitung wiederum mag solche Hintergehungsversuche sehr wohl entdecken und das Foto dennoch veröffentlichen, weil sie glaubt, die hineingeschmuggelten Elemente zur Bereicherung ihres Programms ausnutzen zu können. Und was für Zeitungen gilt, gilt auch für alle übrigen Kanäle. Jedes distribuierte Foto erlaubt der Fotokritik, diesen Kampf zwischen Fotograf und Kanal zu rekonstruieren. Eben dies macht die Fotografien zu dramatischen Bildern.

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Kameras werden von Leuten gekauft, die für diesen Kauf von den Werbeapparaten programmiert wurden. Die entstandene Kamera wird vom „letzte Modell“ sein: billiger, kleiner, automatischer und effizienter als vorangegangene Modelle. Wie bereits festgestellt, fußt diese fortschreitende Verbesserung der Kameramodelle auf dem Feedback, mit dem die Knipser die Fotoindustrie füttern: Diese lernt automatisch aus dem Verhalten der Knipser (und der Fachpresse, die sie unablässig mit Testergebnissen versorgt). Das ist das Wesen des nachindustriellen Fortschritts. Die Apparate verbessern sich durch soziales Feedback.

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Die Kamera verlangt von ihrem Besitzer (von jenem, der von ihr besessen ist), immerfort zu knipsen, immer weitere redundante Bilder herzustellen. Diese Fotomanie der ewigen Wiederholung des Gleichen (oder sehr Ähnlichen) führt schließlich zu einem Punkt, von dem ab sich der Knipser ohne Kamera blind fühlt: Drogengewöhnung setzt ein. Der Knipser kann die Welt dann nur noch durch den Apparat und in den Fotokategorien ansehen. Er steht nicht „über“ dem Fotografieren, sondern ist von der Gier seines Apparats verschlungen, zum verlängerten Selbstauslöser seines Apparats geworden. Sein Verhalten ist automatisches Kamera-Funktionieren.

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Die Entwicklung des Fotografierens, von den Anfängen bis heute, ist ein Prozeß des zunehmenden Bewußtwerdens des Informationsbegriffs: von der Gier nach immer Neuem mit immer der gleichen Methode zum Interesse an immer neuen Methoden. Knipser und Dokumentaristen jedoch haben „Informationen“ nicht begriffen. Sie stellen Apparatgedächtnisse her, nicht Informationen, und je besser sie dies tun, desto besser belegen sie den Sieg der Apparate über den Menschen.

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Der Analphabet ist nicht mehr wie früher, von der in Texten verschlüsselten Kultur ausgeschlossen, sondern er ist fast gänzlich an der in Bildern verschlüsselten Kultur beteiligt. Sollte die vollständige Unterwerfung der Texte unter die Bilder in Zukunft gelingen, dann ist mit einem allgemeinen Analphabetismus zu rechnen, und nur noch Spezialisten werden schreiben lernen. Ansätze hierfür gibt es bereits: „Johnny can´t spell“ in den Vereinigten Staaten, und auch in sogenannten Entwicklungsländer sind daran, den Kampf gegen den Analphabetismus aufzugeben und in Schulen Bildunterricht zu erteilen.

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Sich im Fotouniversum befinden heißt, die Welt in Funktionen von Fotos zu erleben, zu erkennen und zu werten. Jedes einzelne Erlebnis, jede einzelne Erkenntnis, jeder einzelne Wert kann in die einzelnen ersehnen und ausgewerteten Fotografien zerlegt werden. Un jede einzelne Handlung kann in die einzelnen als Modelle verwendeten Fotos analysiert werden. Nun ist diese Art von Dasein, in dem alles Erfahren, Erkennen, Werten und Handeln in punktartige Elemente (in „bits“) zerlegt werden kann, bekannt: Es ist das Dasein von Robotern. Das Fotouniversum und alle apparatischen Universen robotisieren den Menschen und die Gesellschaft

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Versucht man nun, die Apparate zu kritisieren, dann ersieht man zuerst das Fotouniversum als Produkt von Kameras und Distributionsapparaten. Dahinter wird man Industrieapparate, Werbeapparate, politische, wirtschaftliche, Verwaltungsapparate und andere erkennen. Jeder dieser Apparate wir zunehmend automatischer und ist kybernetisch mit anderen Apparaten verkoppelt. Jedem Apparat wird sein Programm durch einen anderen Apparat in seinen Input gefüttert, und er füttert seinerseits andere Apparate durch seinen Output. Der Apparatkomplex ist damit eine aus Black Boxen zusammengesetzte Super-Black-Box. Und er ist ein menschliches Erzeugnis: Im Laufe des 19. Und 20. Jahrhundert hergestellt, sind Menschen fortwährend damit beschäftigt, ihn zu erweitern und zu vervollkommnen. Es liegt daher nahe, die Apparatkritik auf die menschliche Absicht zu konzentrieren, die die Apparate gewollt erzeugt hat.

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Leider ist diese traditionelle, aus dem Industriekontext herastammende Kritik der dem Phänomen der Apparate nicht adäquat. Sie geht am Wesentlichen der Apparate vorbei, nämlich an ihrer Automatizität. Und gerade diese gilt es zu kritisieren. Apparate wurden erfunden, um automatisch, das heißt autonom von künftigen menschlichen Eingriffen, zu funktionieren. Das ist die Absicht, die sie erzeugt hat: daß der Mensch aus ihnen ausgeschaltet werde. Und diese Absicht ist zweifellos gelungen. Während der Mensch mehr und mehr ausgeschaltet wird, werden die Apparatprogramme, diese sturen Kombinationsspiele, reicher und ereicher an Elementen; sie kombienieren immer schneller und übersteigen die Fähigkeit jedes Menschen, sie zu durchschauen und zu kontrollieren. Wer immer mit Apparaten zu tun hat, hat es mit Black Boxen zu tun, der nicht durchschauen kann.

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Wir beobachten allerorts, wie Apparte jeder Art daran sind, unser Leben in sturer Automation zu programmieren; wie die Arbeit von Menschen auf Automaten abgewälzt wird und wie die Mehrheit der Gesellschaft beginnt, im "teritären Sektor" mit dem Spielen mit leerer Symbolen beschäftigt zu werden; wie sich das existentielle Interesse von der dinglichen Welt auf die Universen der Symbole überträgt und wie sich die Werte von den Dingen auf die Informationen übertragen. Wie sich unsere Gedanken, Gefühle, Wünsche und Handlungen robotisieren; wie "leben" bedeutet, Apparate zu füttern und von ihnen gefüttert zu werden. Kurz: wie alles absurd wird. Wo gibt es da nnoch Raum für menschliche Freiheit?

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Ertens, man kann den Apparat in seiner Sturheit überlisten. Zweitens, man kann in sein Programm menschliche Absichten hineinschmuggeln, die nicht in ihm vorgesehen sind. Drittens, man kann den Apparat zwingen, Unvorhergesehenes, Unwahrscheindliches, Informatives zu erzeugen. Viertens, man kann den Apparat und seine Erzeugnisse verachten und das Interesse vom Ding überhaupt abwenden, um es auf Information zu kontzentrieren. Kurz: Freiheit ist die Strategie, Zufall und Notwendigkeit der menschlichen Absicht zu unterwerfen. Freiheit ist, gegen den Apparat zu spielen.

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Die Philosophie der Fotografie ist notwendig, um die fotografische Praxis ins Bewußtsein zu heben; und dies wiederum, weil in dieser Praxis ein Modell für die Freiheit im nachindustriellen Kontext überhaupt aufscheint. Die Philosophie der Fotografie hat aufzudecken, daß die menschliche Freiheit im Bereich der automatischen, programmierten und programmierenden Apparate keinen Platz hat, um schließlich aufzuzeigen, wie es dennoch möglich ist, für die Freiheit einen Raum zu öffnen. Die Philosophie der Fotografie hat die Aufgabe, über diese Möglichkeiten der Freiheit – und damit der Sinngebung – in einer von Apparaten beherrschten Welt nachzudenken; darüber nachzudenken, wie es dem Menschen trotz allem möglich ist, seinem Leben angesichts der zufälligen Notwendigkeit des Todes einen Sinn zu geben. Eine solche Philosophie ist notwendig, weil sie dei einzige Form von Revolution ist, die uns noch offensteht.